Leben und Wirken von Eilhard Alfred Mitscherlich,
von Gerhard Weise, Herbert Kaltofen und Manfred Fechner,
Paulinenauer Arbeitskreis Grünland und Futterwirtschaft e. V., 14641 Paulinenaue

Prof. Dr. phil. Dr. agr. H. c. mult. Eilhard Alfred Mitscherlich wurde am 29. August 1874 in Berlin geboren. Väterlicherseits stammt er aus einer Familie, aus der seit der Reformationszeit mehrere Pastoren und Universitätsprofessoren hervorgegangen waren. Sein Großvater, Eilhard Mitscherlich, Professor der Chemie an der Berliner Universität, war weltbekannter Mitbegründer der modernen Chemie. Sein Vater, Alfred Mitscherlich, war Mediziner und erworb sich als Professor, Geheimer Sanitätsrat und Chirurg große Verdienst. Sein Großvater mütterlicherseits, Carl Ackermann, besass in der Kurmark und in Niederschlesien fünf größere Rittergüter. „So war ich von beiden Seiten her für meinen Beruf, für die ‚wissenschaftliche Landwirtschaft‘ prädestiniert“ – schrieb Mitschlich in seinen 1945 veröffentlichen Lebenserinnerungen. Die Verbindung des jungen Mitscherlich mit der Landwirtschaft wurde noch dadurch gefördert, dass er von seinem 11. Lebensjahr an häufig die Schulferien auf dem Gut des jüngsten Bruders seiner Mutter, Franz Ackermann, in Kutschlau, Kreis Schwiebus, verbrachte. Dieses, im östlichen Teil der Provinz Brandenburg gelegene Gut überließ ihm sein Onkel 1940 durch letztwillige Verfügung für zehn Jahre zur Bewirtschaftung.

Seine Schulzeit hatte Mitscherlich nicht in bester Erinnerung. Im weisen Alter von 70 Jahren schrieb er über diese Zeit: „Ich kam mit sechs Jahren auf die Vorschule des Französischen Gymnasiums zu Berlin. Ich lernte schwer und habe anscheinend auch stets ein recht schlechtes Gedächtnis für Dinge gehabt, die mir nicht gerade lagen. So kam es, dass ich bereits in Quinta das erste Mal sitzen blieb. Als sich nun in Untertertia, wo ja alle Stunden bis auf Deutsch, Geschichte und Religion in französischer Sprache gegeben wurden, wiederholte, nahmen mich die Eltern vom Französischem Gymnasium und brachten mich auf das Friedrich-Gymnasium. Da ich hier die Untertertia von Neuem beginnen musste, war ich anscheinend für diese Klasse zu reif: ich bekam das beste Zeugnis, ließ dann aber bald nach und kam schließlich nach einem Jahr trotz genügendem Zeugnis wieder nicht die höhere Klasse. Als ich die Obertertia endlich erklommen hatte, sagte mir mein Klassenlehrer: „Geh ab, werd Schuster.“… Da fasste mein Vater den für uns Alle so schweren Entschluss, mich nach auswärts in Pension zu geben, und so kam ich nach Friedeburg Nm., wo ich nun nicht pedantische Pauker, sondern Persönlichkeiten als Lehrer vorfand, mit Freuden arbeitete und zu Ostern 1895 wohl mit als der beste Schüler meine Reifeprüfung absolvierte. Zweieinhalb Jahr hatte ich so auf der Schulbank zugesetzt! Fünfmal war ich je ein halbes Jahr sitzen geblieben! Das wurmte mich jetzt sehr und musste irgendwie wieder eingeholt werden.“ Wir wissen, die Umsetzung dieses Vorsatzes war mehr als erfolgreich. Mit 20 ½ Jahren begann Mitscherlich 1895 zu studieren. Bereits drei Jahre später promovierte er mit magna cum laude, und sechs Jahre nach Studienbeginn schloss er erfolgreich seine Habilitation ab.

Mitscherlich begann 1895 sein Studium an der Universität in Kiel. Hier fand er in Prof. Hermann Rodewald einen Lehrer, der sein Interesse an der mathematischen Formulierung wissenschaftlicher Sacherhalte weckte und der bei ihm Grundlagen einer naturwissenschaftlichen Arbeitsweise legte. Die eigentlichen landwirtschaftlichen Fächer hörte Mitscherlich an der Hochschule in Berlin. Dabei war er immer darauf bedacht, sich nicht auf ein zu enges Fachstudium einzugrenzen. Er hörte in Berlin zwei Semester Vorlesungen in organischer Chemie, Bakteriologie, Tierzucht, Betriebslehre, allgemeiner Ackerbaulehre, Agrarpolitik, Brennerei und Brauerei. Nach Kiel zurückgekehrt, begann er mit seiner Promotionsarbeit, die sich auf Anregung seines Lehrers Rodewald mit der Bestimmung jener Wärmetönung befasste, welche bei der Benetzung verschiedener Böden auftritt. Nach seiner Promotion im Jahre 1898 folgte Mitscherlich seinem Phsiklehrer und Schwager Hermann Ebert an die Technische Hochschule in München. Dort hörte er Vorlesungen über Milchwirtschaft und arbeitete ein Semester lang experimentell an Fragen der Bodenphysik.

Wieder in Kiel, übernahm er bei Rodewald eine Assistentenstelle und hörte an der Universität Vorlesungen über höhere Mathematik und Wahrscheinlichkeitslehre. Seine bodenkundlichen Untersuchungen verfolgte Mitschlich in Kiel zielstrebig weiter. Die Arbeiten zur Bestimmung der Benetzungswärme und zur Bestimmung der Hygroskopizität des Bodens machten ihn in Fachkreisen des In- und Auslandes bekannt. Mit einer diesbezüglichen Arbeit habilitierte sich Mitscherlich 1901 in Kiel für das Gesamtgebiet der Landwirtschaftswissenschaft. Er erhielt für diese Arbeit von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften den mit 1000 RM dotierten Liebig-Preis. Während seiner Privatdozententätigkeit von 1901 bis 1906 in Kiel hielt Mitscherlich u. a. Vorlesungen über landwirtschaftliche Betriebslehre. Er widmete sich aber weiterhin vorrangig der Bodenkunde. In diese Zeit fiel die Herausgabe der ersten Auflage seines Buches „Bodenkunde für Land- und Forstwirte“. In diesem hob Mitscherlich die aktuellen physikalisch-chemischen Eigenschaften des Bodens als entscheiden für den Ertrag der Kulturpflanzen hervor. Dieses Buch hat in jeder Auflage eine Erweiterung erfahren und wurde zu einem Standardwerk für die Fachwissenschaft. Die im Jahre 1954 erschienene 7. Auflage bringt eine Zusammenfassung der wichtigsten Forschungsergebnisse des Autors.

Kurz vor Ostern 1906 erhielt Mitscherlich ganz unerwartet einen Ruf als außerordentlicher Professor für Pflanzenbau an die Universität Königsberg. Er willigte ein mit der Hoffnung auf einen nur kurzen Aufenthalt. Es wurden jedoch 35 Jahre, die Hauptzeit seines Schaffens. Bereits 1903 berichtete Mitscherlich erstmalig über Vegetationsversuche. Er betrat hiermit ein Arbeitsgebiet, das ihn über 50 Jahre intensiv beschäftigen sollte. In Königsberg wandte er sich dem Studium der chemischen Wachstumsfaktoren zu. Bei der chemischen Bodenanalyse war er bemüht, nur solche Extraktionsmittel einzusetzen, die auch den Pflanzen zur Verfügung stehen. Folgerichtig verwendete er deshalb mit Kohlensäure gesättigtes Wasser als Extraktionsmittel. Unter anderem studierte er die Lösung der Pflanzennährstoffe in Abhängigkeit von der CO2- Konzentration, der Zeit und der Temperatur. Dafür erarbeitete er Methoden zur Bestimmung geringer Nährstoffmengen in den Bodenextrakten. Ferner arbeitete er an der Ermittlung der Fehler, die bei der Probenentnahme auf dem Feld, bei der Probenentnahme aus der analysenfertigen Substanz sowie bei der chemischen Analyse auftreten. Solche systematischen Fehleranalysen sind auch heute noch von großer Bedeutung für die Forschung wie auch für routinemäßige Untersuchungen zur Beratung der Praxis.

Seine eigenen, sehr intensiven Arbeiten zur chemischen Bodenanalyse im Vergleich zu seinen pflanzenphysiologischen Untersuchungsergebnissen führten Mitscherlich zu dem Schluss, dass die chemische Bodenanalyse für die Bestimmung der Düngebedürftigkeit weniger geeignet ist als der Vegetationsversuch. Er hielt zwar die chemische Bodenanalyse für einigermaßen brauchbar, wenn man mittels dieser z. B. grob die sehr nährstoffarmen Böden von den Übrigen abgrenzen will. Ansonsten jedoch war er überzeugt, dass die von ihm seit etwa 1922 entwickelte pflanzenphysiologische Bestimmung der wirksamen P- und K-Mengen des Bodens der chemischen Bodenanalyse weit überlegen ist und quantitative Empfehlungen zur P- und K-Düngung ermöglicht. Trotz aller Bemühungen gelang es Mitscherlich zu Lebzeiten jedoch nicht, sich mit seinen Vorschlägen gegen die Verfechter der chemischen Bodenuntersuchung durchzusetzen. So blieb Mitscherlichs zentrales Anliegen, seine pflanzenphysiologischen Methoden der Bodenuntersuchung einzusetzen, auf Ostpreußen und einen Zeitraum von weniger als zwei Jahrzehnten beschränkt. Das trug letztlich zu einer überhöhten P- und K-Düngung in Deutschland bei. Die Erträge hätten vielfach mit einem weit niedrigeren P- und K-Aufwand erreicht werden können, wenn man bei der Bemessung der P- und K-Gaben die pflanzenphysioloschen Methoden Mitscherlichs mit zu Rate gezogen hätte. Seit einigen Jahren gibt es jedoch Bestrebungen zur Bemessung der P- und K- Düngung auf Grünland, die vom Grundanliegen her der Konzeption Mitscherlichs weitgehend entsprechen. Der weitere Beitrag auf dieser Homopage von Hertwig, Schuppenies und Pickert ist ein Beispiel hierfür. Mitscherlich hat innerhalb von 12 Jahren, im Zeitraum von 1909 bis 1921, das Wirkungsgesetz der Wachstumsfaktoren erarbeitet. Zu Beginn dieser Arbeiten ging es Mitscherlich zunächst darum, das seinerzeit nur qualitativ-verbal formulierte Minimumgesetz Liebis zu präzisieren, d.h. quantitativ-mathematisch auszugestalten. Die von ihm durchgeführten Gefäßversuche mit steigenden Gaben von P-Düngemitteln zeigten, dass die Ertragskurven zunächst steil und dann immer flacher anstiegen. Zur mathematischen Beschreibung dieses Sachverhaltes schlug er eine Funktion vor, durch die er schließlich weltweit bekannt wurde. Er nannte diese Funktion zunächst „Gesetz der physioloschen Beziehungen“, später in Anlehnung an Baule‘s „Wirkungsgesetz der Wachstumsfaktoren“.

Im weiteren Verlauf seiner Untersuchungen erhielt Mitscherlich Versuchungsergebnisse, die mit dem Liebigschen Minimumgesetz unvereinbar waren. Von 1916 an erklärte er das Minimumgesetz für ungültig. Stattdessen vertrat er auf Grund seiner experimentellen Ergebnisse die These, dass die Höhe des Pflanzenertrages durch sämtliche Wachstumsfaktoren bestimmt wird und dass sich der Ertrag mit Steigerung jedes einzelnen Wachstumsfaktors gemäß der von ihm vorgeschlagenen Funktion erhöht. Jedem einzelnen Wachstumsfaktor ordnete er dabei einen bestimmten Wirkungsfaktor bzw. Wirkungswert zu, dessen Höhe von den übrigen Wachstumsfaktoren mehr oder weniger unabhängig sein sollte. Aus heutiger Sicht handelt es sich bei der von Mitscherlich vorgeschlagenen Funktion um eine Produktionsfunktion. Mitscherlich war der erste, der eine brauchbare Produktionsfunktion für die Beziehung zwischen Nährstoffgabe und Ertrag vorschlug. Ausgehend von den Ergebnissen und Thesen Mitscherlichs formulierte der Mathematiker B. Baule im Jahre 1918 das sogenannte „allgemeine Wirkungsgesetz der Wachstumsfaktoren“. Hierbei handelt es sich um eine Verallgemeinerung des Ansatzes von Mitscherlich, um die Abhängigkeit des Ertrages von mehreren Nährstoffen bzw. Wachstumsfaktoren zu erfassen. Weltweit hat die von Mitscherlich eingeleitete mathematische Behandlung der Ertragsbindung eine imposante Entwicklung genommen. Produktionsfunktionen werden heute bei vielen Problemstellungen genutzt. Darüber hinaus wurden und werden auch dynamische Modelle des Pflanzenwachstums und der Ertragsbildung entwickelt, in denen unter Einsatz moderner Computertechnik der zeitliche Ablauf der Prozesse gebührende Berücksichtigung findet. Mitscherlich war ein Wegbereiter dieser für ihn seinerzeit noch nicht absehbaren Entwicklung.

Die Arbeiten von Mitscherlich waren weitgehend geprägt durch Grundlagenuntersuchungen naturwissenschaftlicher Art. Obwohl sie mitunter einen sehr theoretischen Charakter zu haben schienen, waren sie meist direkt oder indirekt auf die Lösung praktischer Fragen der Pflanzenproduktion ausgerichtet. Trotz seiner sehr ausgeprägten naturwissenschaftlichen Neigungen sah sich Mitscherlich letztendlich eben doch als Landwirt. Sicherlich blieben viele seiner theoretischen Arbeiten für den praktischen Landwirt unverständlich. Dennoch genoss Mitscherlich in der Praxis großes Ansehen und Vertrauen. Die Geschehnisse im Jahr 1923 liefern ein typisches Beispiel hierfür. In diesem Jahr erhielt Prof. Mitscherlich das Angebot, ein Forschungsinstitut für Pflanzenbaulehre mit Abteilungen für Bodenkunde, Pflanzenzüchtung und Pflanzenkrankheiten in Dresden zu übernehmen. Das Angebot war außerordentlich günstig. Während eines großen Abendessens beim Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen, der gleichzeitig auch Kurator der Königsberger Universität war, wurde über diese anstehende Berufung gesprochen. In spontaner Reaktion auf diese Ankündigung traten namhafte Landwirte Ostpreußens mit dem Vorschlag an Mitscherlich heran, bei einem Verbleib Mitscherlichs in Königsberg eine Gesellschaft gründen zu wollen, die Mitscherlich die Möglichkeit bietet, seine Forschungsergebnisse in die Praxis umzusetzen. Mitscherlich blieb in Königsberg, und so wurde die Mitscherlich Gesellschaft in Ostpreußen gegründet. Sie war für Mitscherlich die entscheidende Einrichtung zur Einführung seiner wissenschaftlichen Ergebnisse in die landwirtschaftliche Praxis jener Zeit.

Von der Mitscherlich-Gesellschaft wurden in Ostpreußen vier Gefäßversuchsstationen für Bodenuntersuchungen errichtet. Jährlich sind Tausende von Bodenuntersuchungen durchgeführt worden. Das Kernstück in diesen Gefäßstationen waren die von Mitscherlich konstruierten Vegetationsgefäße, hergestellt von der Firma Gebrüder Baumann in Amberg. Diese Gefäße waren nach seiner Aussage das Einzige, was bei allen seinen Arbeiten einen persönlichen Nebenverdienst einbrachte. Die Lizenzgebühr für die Mitscherlichgefäße reichte, um seine drei Kinder komplett ausbilden zu lassen. Von dem Angebot des Vorstands der Mitscherlich-Gesellschaft, 10% der Einnahmen der Gesellschaft als Entgelt zu erhalten, machte Mitscherlich keinen Gebrauch. Mit Hilfe von 24.000 Gefäßen wurde der Nährstoffbedarf ostpreußischer Böden bestimmt. Dazu kamen im Frühjahr für jede Bodenprobe mehrere Kulturgefäße mit verschiedenen Düngergaben zum Einsatz. Sie wurden mit Hafer besät, und nach der Abreife erfolgte die Ernte. Anhand der ermittelten Erträge ist mittels des Wirkungsgesetzes der Wachstumsfaktoren eine Empfehlung für die künftige Düngung berechnet worden. Besonders wirkungsvoll war dabei, dass die Landwirte den Entwicklungsstand der Pflanzen in den mit ihren eigenen Böden durchgeführten Versuchsreihen besichtigen konnten. Diese Untersuchungen gaben den Landwirten in Ostpreußen wichtige Hinweise für die Steigerung und Stabilisierung ihrer Pflanzenerträge. Die Landwirte wussten dies in hohem Maße zu schätzen. Gefäßstationen dieser Art sind auch im Ausland errichtet worden, sowohl in verschiedenen europäischen Ländern als auch in Nord- und Südamerika, in Japan und in der Sowjetunion. Ein bereits für Mitscherlichs hohes Ansehen in der Sowjetunion ist die russische Ausgabe der dritten Auflage seines Buches „Die Bestimmung des Düngerbedürfnisses des Bodens“ in den 30er Jahren und zuletzt ein Buch von Kirsanov über Mischerlichs Methoden. Ein von Mitscherlich 1931 durchgeführtes Seminar für sowjetische Fachleute an der Königsberger Universität sollte noch nach Kriegsende bedeutsam für ihn werden. Die Mitscherlichgefäße werden auch heute noch in vielen Forschungseinrichtungen genutzt.

Die Liebe und enge Verbundenheit Mitscherlichs zur Landwirtschaft und seine hohe Leistungsfähigkeit waren auch nach seiner Emeritierung im Jahre 1941 ungebrochen. Er übernahm die Bewirtschaftung des etwa 700 Hektar großen Familiengutes in Kutschlauf, und erarbeitete dort auch wissenschaftlich weiter. Er richtete im Gut ein Laboratorium und eine kleine Gefäßstation ein, und wollte nach Untersuchung der Böden aller Schläge seines Betriebes zeigen, dass man den Pflanzenertrag allein durch die richtige Düngung um 50% steigern kann. Damit wollte er beispielhaft seine Erkenntnisse und Methoden der Bodenuntersuchung in der Praxis umsetzen. Die Kriegsereignisse brachten für diesen Lebensabschnitt 1945 jedoch ein jähes Ende. Am 29. Januar 1945 verließ Mitscherlich Kutschlau. Zwei Tage später überquerte er mit seinem Treck die Oder bei Fürstenberg. An Berlin vorbei ging ihre ungewisse Fahrt bis in das Ruppiner Land nach Siedersdorf. Dort wartete Mitscherlich mit seinen Begleitern beim Bauer Pein den Einmarsch der Roten Armee und die Kapitulation Hitlerdeutschlands ab. Die Familie Mitscherlich hatte durch die Flucht fast alles verloren – neben dem persönlichen Hab und Gut u. a. auch wertvolles wissenschaftliches Schriftgut.

Unmittelbar nach Kriegsschluss nahm Mitscherlich Verbindung zu den sowjetischen Dienststellen auf. Er wollte nach Kutschlau zurück und erhielt auch vom sowjetischen Kommandanten ein Dokument, auf dem ihm und seiner Begleitung Schutz und Hilfeleistung bescheinigt waren. Die Rückfahrt war äußerst beschwerlich, die Hauptstraßen waren blockiert. Über Nebenstraßen kamen Mitscherlich und seine Leute am 20. Mai nach Vietznitz im Kreis Westhavelland. Als sich Mitscherlich dort am Gutshof nach dem weiteren Weg erkundigte, las der Gutsverwalter das Namensschild am Wagen Mitscherlichs. Er fragte, ob er der Bodenkundler Mitscherlich sei und schlug ihm vor, vorerst in Vietznitz zu bleiben und das Freiwerden der Straßen abzuwarten. Mitscherlich ging drauf ein, und bezog mit seinem Treck Quartier in einer Gutsscheune. Im Rahmen einer Offizierstagung im Vietznitzer Gutshaus sprach den auf einer Bank sitzenden Mitscherlich ein gut deutschsprechender sowjetischer Offizier an. Dieser hatte seinen ehemaligen Hochschullehrer aus Königsberg wiedererkannt. Diese Begebenheiten dürften letztlich mit ausschlagegebend dafür gewesen sein, dass Mitscherlich mit seiner Begleitung in dem unter sowjetischer Militärverwaltung stehenden Gut Paulinenaue Aufnahme fand. Am 27. Juli 1945 erfolgte der Umzug von Vietznitz nach Paulinenaue. Mitscherlich und seine Begleitung nahmen unmittelbar danach in den verschiedensten Arbeitsbereichen des Paulinenauer Gutes ihre Tätigkeit auf. Mitscherlich selbst war anfangs als Berater bei den Offizieren der sowjetischen Armee in der Gutsverwaltung tätig, und interessierte sich besonders für die Arbeiten in der Gärtnerei.

Trotz seines fortgeschrittenen Alters stelle sich Mitscherlich mit über siebzig Jahren den Herausforderungen der Nachkriegszeit. Dankbar und mit bewundernswerter Willenskraft wurde von ihm die Möglichkeit wahrgenommen, sich als Agrarwissenschaftler an der Überwindung der Kriegsfolgen in der Landwirtschaft zu beteiligen. Intensiv widmete er sich auch in seinem letzten Lebensabschnitt der Umsetzung seines umfangreichen Wissens in der landwirtschaftlichen Praxis. Seine ersten Aktivitäten im Jahre 1945 waren Landfunksendungen zu aktuellen Fragen der Steigerung der Pflanzenerträge. Nach Wiedereröffnung der Berliner Universität im Jahr 1946 wurde er auf den Lehrstuhl für Kulturtechnik berufen sowie zum Institutsdirektor. Doch er strebte nach besseren Voraussetzungen für die Umsetzung seiner Forschungsergebnisse in die Praxis als sie in Berlin gegeben waren. Er unterbreitete deshalb der Akademie der Wissenschaften, deren Mitglied er 1947 geworden war, den Vorschlag, ein neues Forschungsinstitut außerhalb Berlins, direkt in einem größeren Landwirtschaftsbetrieb, zu schaffen und dachte dabei an das Gut Paulinenaue. Nach Mitscherlichs erster Emeritierung 1941 in Königsberg erfolgte deshalb 1950 seine Zweite in Berlin.

Ausgehend von der Notlage nach dem Krieg beinhaltete Mitscherlichs Schreiben an die Deutsche Akademie der Wissenschaften konkrete Vorschläge für die Errichtung einer „Forschungsanstalt zur Steigerung der Pflanzenerträge“ in Paulineaue. Dank seiner überzeugenden Argumente und hartnäckigen, klugen Verhandlung wurde das neue Akademieinstitut am 01. Juni 1949 in Paulinenaue gegründet, das Gut als Versuchsgut zugeordnet und Prof. Mitscherlich zum Direktor dieser Einrichtung berufen. Die Arbeit konnte beginnen, und Mitscherlich fing an, sein Konzept umzusetzen. Unter den gegebenen materiell-technischen Voraussetzungen dieser Zeit bedurfte es dabei größter Anstrengungen, Mitscherlichgefäße zu erwerben, eine Gefäßstation aufzubauen, ein Laborgebäude zu errichten und mit Labortechnik auszustatten, Voraussetzungen für die Durchführung von Feldversuchen zu schaffen sowie Wohnungen für die Mitarbeiter des Institutes und Versuchsgutes zu bauen. Trotz aller Hemmnisse und beschwerlichen Umstände kamen die Arbeiten gut voran. Bei aller Breite der Arbeit im Institut konzentrierte sich die Tätigkeit auf Forschungen zur Steigerung der Pflanzenerträge. Ein wichtiges Anliegen Mitscherlichs in Paulinenaue war dabei, die von ihm entwickelten pflanzenphysiologischen Methoden der Bodenuntersuchungen auf P und K praxiswirksam zu machen. Er hoffte, über das Institut die Anwendung dieser Methoden auf den Weg zu bringen – möglichst in ganz Deutschland. Im Versuchsgut überprüfte er seine pflanzenphysiologischen Methoden zu Bemessung der P- und K-Düngung. Ausgehend von seinem Wirkungsgesetz der Wachstumsfaktoren maß Mitscherlich auch Arbeiten zum Stickstoff eine überragende Bedeutung bei. Weitere Arbeiten in Paulinenaue betrafen u. a. den Wasserhaushalt von Boden und Pflanzenbestand in Abhängigkeit von der Witterung, den Zwischenfruchtanbau und bodenphysikalischen Fragen. Auch zur Methodik und zur Auswertung von Feldversuchen wurde wiederholt Stellung genommen.

Nicht zuletzt befasste sich Mitscherlich in Paulinenaue auch mit der mathematischen Darstellung der Ertragsbildung in Abhängigkeit vom Nährstoffangebot. Dabei ging er insbesondere auf den Wirkungsfaktor oder Wirkungswert c in seinem Wirkungsgesetz der Wachstumsfaktoren ein. Wie schon erwähnt, wurde der für jeden Nährstoff bzw. Wachstumsfaktor charakteristische Wirkungswert c von Mitscherlich ursprünglich als konstant angenommen, das heißt als unabhängig von allen übrigen Wachstumsfaktoren. Doch schon in den 20er Jahren zeigten experimentelle Ergebnisse von Rippel und anderen, dass der Wirkungswert c für einen Nährstoff umso kleiner ausfällt, je höher das Angebot an einem zweiten Nährstoff bzw. je größer der Höchstertrag A in Mitscherlichs Wirkungsgesetz ist. Dessen ungeachtet hielt Mitscherlich lange hartnäckig an seiner Auffassung fest, dass der Wirkungswert c für jeden Nährstoff konstant sei. Dies wohl besonders auch deshalb, weil man seinerzeit die Gaben nach der pflanzenphysiologischen Methode Mitscherlichs ansah und Mitscherlich gerade unmittelbar praktische Anwendung seines Wirkungsgesetzes der Wachstumsfaktoren bei der Bemessung der P- und K-Düngung unter keinen Umständen in Frage gestellt sehen wollte. Im weiteren Verlauf gelangte man dann aber allmählich zu der Einsicht, dass eine absolute Konstanz der Wirkungswerte für die praktische Anwendung des Wirkungsgesetztes der Wachstumsfaktoren bei der pflanzenphysioloschen Bodenuntersuchung gar nicht unbedingt erforderlich ist. Wohl nicht zuletzt deshalb lenkte Mitscherlich schließlich weitgehend ein. So führte er 1953 im Rahmen eines Vortrages auf der Tagung der Deutschen Bodenkundlichen Gesellschaft folgendes aus: „Ist nämlich ein zweiter Wachstumsfaktor auch in verhältnismäßig geringerer Menge vorhanden, so dass der mit dem ersten Wachstumsfaktor erreichbare Höchstertrag A verhältnismäßig niedrig ist, dann ist der Wirkungsfaktor c dieses ersten Wachstumsfaktors höher; er nimmt ab, je günstiger sich alle anderen Wachstumsfaktoren gestalten, je höher also der Wert A wird, und das wohl wieder logarithmisch, bis er sich so allmählich einer minimalen Höhe näher und dann gleich bleibt, also „konstant“ ist. Wenn wir so bei Gefäßversuchen alle anderen Wachstumsfaktoren so günstig wie nur möglich gestalten oder bei den Feldversuchen eine ausreichende Grunddüngung von allen anderen Nährstoffen geben, so dass der Wert A verhältnismäßig hoch ist, dann ist der Wirkungswert c des einzelnen Wachstumsfaktors in der Tat konstant.“

Rückblickend lässt sich resümieren: Mitscherlich gelang es in wenigen Jahren, eine den Anforderungen der Zeit gerecht werdende Forschungsstätte in Paulinenaue aufzubauen. Sein Wirken in Paulinenaue war der krönende Abschluss eines langen Forscherlebens. Dass er in fortgeschrittenem Alter noch die Möglichkeit erhielt, ein Forschungsinstitut der Akademie der Wissenschaften ins Leben zu rufen, war seinem internationalen Ruf zu verdanken, den er sich durch seine Forschungsarbeit an der Universität Königsberg erworben hatte. Mitscherlich hinterließ ein umfangreiches Lebenswerk. Mehr als 330 wissenschaftliche Arbeiten hat Mitscherlich allein oder in Zusammenarbeit verfasst. Etwa 110 Promotionen und eine beachtliche Zahl an Habilitationen entstanden unter seiner Anleitung und Fürsorge.

Wiederholt setzte sich Mitscherlich mit dem Verhältnis zwischen Wissenschaft und Praxis auseinander. Folgende bedenkenswerte Worte richtete er anlässlich eines agrarwissenschaftlichen Kongresses der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft 1947 in Berlin an die Betroffenen: „Die landwirtschaftliche Wissenschaft nährt sich von den Problemen der landwirtschaftlichen Praxis, zugleich der Volkswirtschaft neue Wege weisend. Aber sie kann diese Probleme nur dann in gebührender Weise lösen, wenn sie über die richtigen Theorien für die Lösung verfügt. Wo daher keine theoretische Arbeit besteht, muss sie organisiert werden. Diese Arbeit kann dem Praktiker als nicht mit den Bedürfnissen der Landwirtschaft verbunden erscheinen. Jedoch kann sie später, nach zwei, drei oder auch mehr Jahren unbedingt praktischen Nutzen bringen. In jedem Fall muss der Praktiker Geduld haben und dem Wissenschaftler die Möglichkeit zu ruhiger Arbeit geben. Andererseits darf der Wissenschaftler nicht die praktischen Bedürfnisse der Landwirtschaft aus dem Auge verlieren, da er sonst für die praktische Landwirtschaft nicht das leisten kann, wozu er berufen ist. Theorie und Praxis müssen jedenfalls miteinander verbunden sein, wenn wir eine hohe landwirtschaftliche Produktion und eine Steigerung unserer Ernten erreichen wollen.“ Am 03. Februar 1956 verstarb Eilhard Alfred Mitscherlich in Paulinenaue, wo er auch seine letzte Ruhestätte fand. Sein wissenschaftliches Erbe sollte auch weiterhin gepflegt werden. Durch vertiefte Auseinandersetzung mit vielen Teilen seines wissenschaftlichen Lebenswerkes ergeben sich auch heute, 50 Jahre nach seinem Tod, noch mannigfache Denkanstöße und Ansätze für weiterführende Forschungen.

Quellenverzeichnis
Atanasiu, N.: E. A. Mitscherlich zum Gedenken. – In: Plant and soil. – 8(1956)1.- S. 4 -9

Bredel, O., H. Kaltofen: Eilhard Alfred Mitscherlich 1874- 1956: Leben und Werk. – Berlin u. Paulinenaue, 1998 (Diese Biografie kann bezogen werden über den Paulinenauer Arbeitskreis Grünland und Futterwirtschaft e. V., Gutshof 7, 14641 Paulinenaue)

Kaltofen H.: Eilhard Alfred Mitscherlich – ein weltweit bekannter Gelehrter als Begründer der Agrarforschung in Paulinenaue. – In: 50 Jahre Wissenschaftsstandort Paulinenaue: Wiss. Vortragstagung. – Paulinenaue, 1999. – S. 17- 35

Kirsanov, A.T.: Teorija Micerlicha, ee analiz i prakticeskoje primenenie. – 1. Izd, – Moskva, 1930

Mitscherlich, E., G. Mitscherlich: Eilhard Alfred Mitscherlich (1874- 1956). – In: Die Albertus- Universität zu Königsberg und ihre Professoren . –Berlin, 1995. – S 691 -699. – (Jahrbuch der Albertus- Universität zu Königsberg, Pr.; Bd. 29 = 1994)

Mitscherlich, E.A., E. v. Boguslawski, A. Gutmann: Studien über die Ernährung der Pflanze und die Ertragsbildung bei verschiedener Düngung. – Halle (Saale), 1935. – (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft: Naturwissenschaftliche Klasse; Jg. 12, H2)

Mitscherlich, E.A.: Lebenserinnerungen. – Halle (Saale), 1945. – (Selbstbiographien von Naturforschern: Nr. 3)

Mitscherlich, E. A.: Über die Fehler bei Ertragsversuchen. – Berlin, 1950. – (Vorträge und Schriften/ Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin; H 37)

Mitscherlich, E. A.: Das Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag und was darunter zu verstehen ist. – Berlin, 1952. – (Vorträge und Schriften / Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin; H 43)

Mitscherlich, E. A.: Erkenntnisse bei der Pflanzendüngung. – Berlin, 1952. –(Vorträge und Schriften / Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin; H 44)

Sauerlandt, W.: Eilhard Alfred Mitscherlich – Ein Forscherleben für die Landwirtschaft. –In: Landwirtschaftliche Forschung. – 9(1956)2. – S. 75-89

Stubbe, H.: Nachruf auf Eilhard Alfred Mitscherlich. – In: Jahrbuch der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1956. – Berlin, 1957. S. 497-511

Das Zusammenwirken mehrerer Wachstumsfaktoren bei der Ertragsbildung: Vorträge eines Symposiums der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften der DDR vom 23. Bis 25. Oktober in Berlin aus Anlass des 100. Geburtstages von Eilhard Alfred Mitscherlich. – Berlin, 1975. – (Tagungsbericht / AdL; Nr. 139)